Ein schöner Fleck Erde

Text von Jessica Wirth
Bilder von Jessica Wirth

Bistrotische inmitten antiker Gebäude, aufgeräumte Plätze, geschäftiges Treiben in der Pfistergasse: Das kleinste aller Stadtquartiere verbindet Geschichte, Sorgfalt und Tradition. Ich gehe auf Entdeckungsreise - eine Reise zwischen damals und heute.

Ich eile über die Reussbrücke in die Altstadt - normalerweise. Heute biege ich bei der Franziskanerkirche nach links ab. Die Sonne steht hoch am Himmel, taucht alte Gebäude in weiches Licht und wirft lange Schatten auf neue Pflastersteine. Während zwei Jahren ist die Kleinstadt, das Dreieck zwischen Hirschengraben und Reuss, saniert worden. Die alteingesessenen Gebäude sind geblieben. Im Spätmittelalter gewann Luzern im wachsenden Gotthardverkehr grosse Bedeutung: Waren, Mensch und Tier gelangten vom Wasser an Land und setzten ihren Weg über die Pfistergasse nach Bern und Basel fort - oder umgekehrt. In Luzern machten die Händler halt, um sich für den zweiten Teil der Reise zu stärken. Die Kleinstadt ist das Älteste aller Quartiere und hiess damals «Affenwagen». Der Name geht auf die Vereinigung patrizischer Fernhändler zurück, welche im heutigen Regierungsgebäude ihre Zunftstube führten, umgeben von zahlreichen Wirtshäusern. Geblieben sind die beiden Traditionsbetriebe der Tavolago: der Stern und die Taube. Andere mussten der Jesuitenkirche weichen. Und wieder andere erstrahlen heute in neuem Glanz, wie das Bistro Krienbrüggli. Aber alles der Reihe nach - der Tag ist noch lang.

Hohe Berge dominieren die Landschaft. Steil zulaufende Felswände, die sich unerbittlich aufbauen, um ihre Schatten in’s Tal zu werfen: graue schwarze und weisse Farbspiele so weit das Auge reicht. Es ist eine faszinierende Gegend zwischen roher Natur und unberührter Schönheit. Einsam, je höher man kommt. Inmitten der Felsen haben Elio Müller und Franz von Arx ihr kleines Lager aufgeschlagen. Da, wo niemand ist. Für etwa vier Monate im Jahr ist der Planggenstock in der Göschneralp ihr Arbeitsplatz, die beiden sind Strahler. Sie suchen nach Kristallen. Franz ist ein Pionier der Strahler-Gilde. 1993 entdeckte er zusammen mit seinem damaligen Partner Paul die Anzeichen einer Kluft im harten Felsen des Planggenstocks. 12 Jahre und 150 Kubikmeter abgetragenen Gesteins später, wurden sie fündig. Tief im Innern des Berges stiessen sie auf eine 300 kg schwere Kristallgruppe. Das gab es noch nie. Paul setzte sich zur Ruhe und Franz hielt nach einem neuen Gefährten Ausschau. Elio hatte sich bereits in jungen Jahren mit seinem feinen Gespür für Bodenschätze einen Namen gemacht, die beiden kannten sich gut. Sie entschlossen sich, zusammen zu spannen. Den Schritt, das Strahlern zum Beruf zu machen, sollte Elio nicht bereuen.

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Handel mit Zeit

Ich erkunde die Pfistergasse, wo sich kleine feine Geschäfte aneinander reihen. Seit 1982 führt Susanne Moser, welche liebevoll «Schoggi-Susi» genannt wird, das Lädeli «au Cachet», wo es einzelne offene Pralinen gibt. Der Zusammenhalt zwischen den Detailhändlern ist gross, jedoch ändern sich die Zeiten. Susi erzählt, dass sie früher alles, was sie zum Leben brauchte, im Quartier kaufte. Mittlerweile sind Käserei, Gemüsehändler und Metzger geschlossen. Die Philosophie vergangener Tage bewahrt sie in ihrem Lädeli: «Ich habe viele Kundinnen und Kunden, welche nicht nur einkaufen, sondern länger bleiben, um über Freud und Leid zu berichten. Dann sage ich: Jetzt nimm dir eine Praline - und höre ihnen zu. Meine Aufgabe ist es, den Menschen wohlwollend und mit Zeit zu begegnen. Schokolade gibt es schliesslich überall.»

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Neben den Traditionsgeschäften treffe ich auf jüngere Shops, das «Number One» von Jeremy zum Beispiel. In seinem Board und Bike-Laden führt er Produkte unabhängiger Produzenten. Er zelebriert den Kleinhandel: «Der Mensch hat kein grösseres Mitbestimmungsrecht, als über die Kaufraft,» erklärt er mir. «Mit seinem Erwerb bestimmet er, wie sich die Welt dreht. Ich merke immer grösseres Erwachen in jenem Bereich.» Weil die Häuser traditionellen Familien gehören, welche zum Teil noch selbst hier leben, sind die Mieten fair. Wenn der Generationenwechsel kommt, dann wird man sehen.

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Lueg is Land

Der Tag geht langsam in die Sommernacht über. Ich bestelle mir ein Glas Weisswein im Krienbrüggli, welches seit einiger Zeit in neuem Glanz erstrahlt. Zuvor war dort Dreissig Jahre lang das horizontale Gewerbe zelebriert worden. Nun ist es ein Ort zum Verweilen mit WG-Zimmern im oberen Stockwerk. Einen Steinwurf davon entfernt liegt die Taube, wo ich an einem der Tische neben der Reuss Platz nehme. Verschiedene Sprachen umgeben mich, gespickt mit breitem Dialekt. Die Kleinstadt zieht Touristen und Einheimische gleichermassen an. Ich bestelle mir ein «Original Lozärner Chögalipaschtetli» und frage mich, ob hier bereits meine Vorfahren bewirtet worden sind. Den Abend lasse ich schliesslich mit einem «Absacker» im Stern ausklingen.

«Hier ist alles ruhiger, weniger hektisch als anderswo. Wir geben aufeinander Acht und zelebrieren die Entschleunigung.»
Thomas Limacher, Pfistergassoptik

Die Atmosphäre ist friedlich, kein Partyvolk, eher Geniesserinnen und Geniesser. Bereits am Nachmittag hat mir Thomas Limacher, während meinem Besuch in der Pfistergassoptik, davon berichtet: «Hier ist alles ruhiger, weniger hektisch als anderswo. Wir geben aufeinander Acht und zelebrieren die Entschleunigung. Es ist gut, wie es ist.» Auf dem Heimweg fällt mein Blick auf den «Lueg is Land Turm» der Stadtmauer, welcher sich erhaben vor dem Nachthimmel abzeichnet. Er hat wohl einiges erlebt, dennoch steht er ungerührt da, ein beständiger Teil Luzerns - wie das Kleinstadtquartier mit seinen aussergewöhnlichen Menschen.

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